Im Rahmen eines Online-Pressegesprächs erneuerten Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft aus ganz Österreich ihre Forderung, Menschen aus den griechischen Lagern zu retten. Als Grundlage dafür wurde ein Plan zur „geordneten Rettung“ vorgestellt, der sich als „Gegenkonzept zur Angstmache“ versteht.
Situation vor Ort nach wie vor dramatisch
Maria Katharina Moser, Direktorin der Diakonie, schilderte einleitend die Lage vor Ort. Aktuell befinden sich rund 6.000 Menschen im – nach dem Brand von Moria errichteten – provisorischen Lager Mavrovouni („Kara Tepe“ oder „Moria 2“), darunter fast ein Drittel Kinder und Jugendliche. Etwa 30 % der Personen im provisorischen Lager sind anerkannte Flüchtlinge mit einem gültigen internationalen Schutzstatus wie Asyl oder subsidiären Schutz. „Über sechs Monate nach dem Brand von Moria leben immer noch tausende Menschen unter unzumutbaren Bedingungen und ohne Perspektive. Es erreichen uns täglich schreckliche Berichte – von Kindern, die sich das Leben nehmen wollen, bis hin zu Schwangeren, die unter Hunger leiden. Die Weigerung der österreichischen Bundesregierung, Menschen aus den griechischen Lagern zu retten, trägt zur Verschärfung dieser Probleme bei“, so Moser. Während bis zum 21. April 2021 im Rahmen des laufenden Relocation-Programms insgesamt 3.679 Geflüchtete aus Griechenland in Ländern der Europäischen Union aufgenommen wurden, war Österreich bislang nicht bereit, auch nur einen Menschen aus den griechischen Lagern aufzunehmen – selbst in Fällen, wo höchste Not besteht.
Einen solchen Fall schilderte Franz Wolfmayr von der Solidarregion Weiz, einer überparteilichen und überkonfessionellen Initiative, die sich dem Zusammenhalt in der oststeirischen Region verschrieben hat. Er beschrieb die Geschichte eines zwölfjährigen Buben, der mit seiner Familie in Kara Tepe („Moria 2“) lebt und unter einem äußerst schmerzhaften Tumor am Finger leidet. Die Solidarregion Weiz hat seit Wochen alles vorbereitet und getan, um den Jungen und seine Familie nach Österreich zu bringen, hier fachgerecht operieren zu lassen und eine Perspektive in Österreich zu bieten. Doch trotz zahlreicher Gespräche, die u. a. direkt mit hochrangigen Vertretern des österreichischen Außenministeriums geführt wurden, wird den Steirern nach wie vor die Möglichkeit verwehrt, dieser Familie zu helfen. Es ist nur ein Beispiel von vielen, wo eine geordnete Rettung dringend geboten wäre. Dementsprechend eindringlich war auch Wolfmayrs Appell an die österreichische Bundesregierung: „Lassen Sie uns endlich Menschen retten.“
Geordnete Rettung in sechs Schritten
Den Plan zu einer geordneten Rettung präsentierte Judith Kohlenberger, die als Migrations- und Fluchtforscherin an der WU Wien tätig ist. Das Konzept wurde in Zusammenarbeit mit nationalen und internationalen Expert*innen sowie unter Einbeziehung zentraler Stakeholder*innen entwickelt. Es sieht sechs Punkte bzw. Schritte vor:
1. Vorbereitung auf Lesbos (Koordination vor Ort und in Österreich für Abstimmungen mit Behörden etc.)
2. Auswahl und Transfer (Registrierung, Prüfung, Auswahl in Abstimmung mit Quartieren und Transfer)
3. Covid-19-Maßnahmen (Gesundheitstests und Quarantäne wie in jeweiligen Bestimmungen vorgesehen)
4. Unterbringung (durch Gemeinden, Pfarren, Gastgeberfamilien und Einzelpersonen)
5. Soziale Absicherung (Kranken- und Unfallversicherung bzw. Versorgung durch öffentliche Hand)
6. Integrationsbegleitung (Begleitvereinbarung z. B. mit „Buddy-System“ und Unterstützung für Spracherwerb, Ausbildung etc.)
„Menschen geordnet zu retten wäre eine Sicherheitspolitik, die diesen Namen verdient – indem sie Sicherheit für Geflüchtete und geordnete Rahmenbedingungen für ein Aufnahmeland wie Österreich schafft“, so Kohlenberger. „Wird hier nichts getan, hat das nicht nur großes menschliches Leid zur Folge – es besteht auch die Gefahr, dass das Aufschieben einer Lösung irgendwann zum Zusammenbruch der derzeitigen, nur scheinbaren Ordnung führt“, erklärt die Migrationsexpertin. 2015 sei das beste Beispiel dafür, was passiert, wenn zu spät und zu zögerlich gehandelt wird.
Maria Hasibeder, Präsidentin der Katholischen Aktion Oberösterreich, verwies darauf, dass es unzählige Menschen gibt, die helfen wollen. Aus diesem Grund haben der Pastoralrat der Diözese Linz und die Katholische Aktion Oberösterreich eine Initiative für die Aufnahme einer überschaubaren Zahl von anerkannten Geflüchteten aus den Lagern an den EU-Außengrenzen gestartet. Derzeit wird erhoben, in welcher Form sich oberösterreichische Pfarrgemeinden konkret an einer Aufnahme beteiligen möchten. „Von etwa einem Drittel der 450 oberösterreichischen Pfarrgemeinden liegt bereits eine Rückmeldung vor, davon sind 80 Prozent sehr positiv, dankbar für diese Initiative und bereit, anerkannte Geflüchtete in ihren Integrationsschritten ehrenamtlich zu begleiten“, so Hasibeder. Sie appelliert an die Bundesregierung und die politisch Verantwortlichen, die Mauer des kategorischen „Nein“ zu durchbrechen und in Zusammenarbeit mit NGOs, Zivilgesellschaft und Kirchen geordnete Aufnahmeprogramme zu starten.
Bereits im vergangenen Oktober hat die Initiative „Courage – Mut zur Menschlichkeit“ über 3.000 „sichere Plätze“ in Österreich identifiziert, die Kapazitäten für eine geordnete Rettung von z. B. 100 Familien wären also vorhanden (siehe dazu).
Hilfe im Ort statt vor Ort
Katharina Stemberger, Initiatorin von „Courage – Mut zur Menschlichkeit“ betonte abschließend, dass eine geordnete Rettung nicht nur möglich, sondern auch notwendig sei, um Griechenland einerseits zu entlasten und anderseits dort menschenwürdige Zustände einfordern zu können. Stemberger versteht den 6-Punkte-Plan für eine geordnete Rettung als Gegenkonzept zur Angstmache und Verunsicherung, die von politischer Seite geschürt wird. Sie verweis dabei u. a. auf die große Tradition Österreichs als „Land der Hilfe und Solidarität“ in vergleichbaren Notsituationen wie z. B. der Ungarnkrise 1956 oder den Jugoslawienkriegen 1991. „Die österreichische Zivilgesellschaft ist bereit, die Rettung, Unterbringung, Versorgung und Integrationsbegleitung von Geflüchteten zu übernehmen. Man muss uns nur lassen. Nachdem die Hilfe vor Ort nicht funktioniert hat, wird es Zeit, die Hilfe im Ort zu ermöglichen. Denn Wegschauen und Untätigkeit führen letztlich zu einer Verschärfung der Lage“, so Stemberger.
Die vorgestellte Präsentation „Geordnete Rettung“ (Stand: 23. April 2021) steht hier zum Download zur Verfügung.
Ein Video des Pressegesprächs finden Sie hier.
Die Migrations- und Fluchtforscherin Judith Kohlenberger erklärt in diesem Video wie die „Geordnete Rettung“ funktioniert.
Franz Wolfmayr von der Solidarregion Weiz schildert in diesem Video das (im Rahmen des Pressegesprächs) vorgestellte Fallbeispiel.
The „Orderly Rescue Plan“ in English: